Ich weiß es genau

Anita

„Ich weiß es genau “

Anita kommt mit einem klaren Anliegen zur Auszeit: Sie will Sexualität offener und freier gestalten können. Sie will endlich einen Orgasmus erleben. Bisher war ihr das nicht möglich. Die Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und die mittlerweile manifestierte Angst vor den Schmerzen sind für sie eine Belastung geworden. Eine Partnerschaft ist für sie in weite Ferne gerückt.
Anita erzählt: „Ich habe viele Selbstfindungsseminare besucht. Und ich nehme regelmäßig an Familienaufstellungen teil. Deshalb weiß ich auch sehr genau, Bescheid über meine Probleme und die Ursachen.“
Ich halte mit meiner Verwirrung nicht hinter dem Berg, als ich sie frage:
„Und was erwartest du von mir?“
Anita zögert nur kurz. „Dass du mich darin unterstützt mich zu erinnern und dann daran zu arbeiten.“
Ich: „Woran zu erinnern?“
Anita: „An meine Missbrauchserfahrung. Ich weiß nicht mehr genau wann oder wie – aber ich bin mir ganz sicher, dass ich so etwas erlebt haben muss. Ich habe viel darüber gelesen. Deshalb weiß ich sicher, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung habe.“

Für psychiatrische Diagnosen bin ich nicht zuständig. Eine krampfhafte Suche nach möglichen Erinnerungen an etwas, das gewesen sein kann – oder auch nicht – erscheint mir aus zweierlei Gründen unseriös und zudem kontraproduktiv:
Erinnerungen sind für uns sehr wichtig, weil sie abgespeicherte Informationen der Vergangenheit enthalten, auf die wir in der Gegenwart zurückgreifen, weil sich im Vergleich damit Veränderungen für die Zukunft initiieren lassen. Und auch, weil sie Bestandteil unserer Biografie sind.
Erinnerungen sind aber auch immer beeinflusst von dem aktuellen Zustand und den damit verbundenen Erwartungen, aus dem wir sie hervorholen.

Im Laufe unseres Gespräches bemerke ich, dass Anita sich förmlich darin verbissen hat, verschüttete Erinnerungen an einen möglichen oder vermeintlichen sexuellen Missbrauch auszugraben und damit eine Bestätigung für den Grund ihrer sexuellen Probleme zu finden.
Mich interessiert, ob es einen Auslöser für diese Vermutung gegeben hat.
Anita: „Ich war bei einer Familienaufstellung und da kam klar heraus, dass das passiert sein muss.“
Ich: „Wie wurde dir das denn klar?“
Anita antwortet nicht direkt.
„Ich bin mir sicher, es war mein Vater.“
Und noch ehe ich eine weitere Frage stellen kann, erklärt Anita im Brustton der Überzeugung: „Die Aufstellungsleiterin hat es bestätigt.“
Ich bin erstaunt. „War sie denn dabei?“
Im ersten Moment sieht Anita mich fast ärgerlich an. Nur Sekunden später zeigt sich ein fast unmerkliches Lächeln.
Die erste Reaktion zeigt mir, dass sie keinesfalls von dieser Überzeugung abweichen will und sie im Moment noch nicht bereit ist, das Ergebnis der Aufstellungarbeit differenziert zu betrachten.
Ihre nachfolgende Reaktion- das kurze Lächeln – machte mir jedoch auch klar, dass ich es mit einer sehr klugen Frau zu tun habe. Anita hat das Glatteis auf den sie ihr Widerstand geführt hat, durchaus durchschaut.
Ich wage mich einen Schritt vorwärts und frage nach ihrem Vater.
Ich frage sie nach ihrem Vater.
Anita senkt den Kopf. „War. Er ist vor ein paar Jahren verstorben.“
Ich würde gerne erfahren, wie ihre Beziehung zu ihm war.
Anita erzählt. Und mir fällt dabei auf, dass sich in ihrer Schilderung häufig die Erinnerungen ihrer Mutter mit ihren eigenen vermischen.
„Mama hat gesagt, dass er…“, so beginnen die meisten ihrer Sätze. Ich erfahre, dass ihre Mutter so gut wie keine positiven Erinnerungen an diesen Mann hat. Kurz und bündig: er war Alkoholiker, unzuverlässig und schlichtweg ein schlechter Mensch
Mich interessieren Anitas eigene Wahrnehmungen von ihm und wenn sie mir davon erzählt, bemerke ich, wie sie dabei lächelt.
„Er hat viel getrunken, das stimmt. Aber er hat auch viel Zeit mit mir verbracht. Er hat mir oft Geschichten erzählt, die mich zum Lachen gebracht haben.“
Und nach einer Weile fügt sie hinzu: „Ich glaube, er war meiner Mutter einfach nicht gewachsen. Sie hatte immer das Sagen und er hat es ihr nie recht machen können.“

Ich denke, dass Anita durchaus eine Art von Missbrauch erlebt hat – zumindest auf emotionaler Ebene.
Anita wurde im Machtkampf zwischen den Eltern jahrelang zerrieben. Zwischen der Vergötterung durch ihren Vater, der von Eifersucht genährten Manipulation duch die Mutter und der feindseligen Stimmung zwischen beiden Elternteilen, befand sich Anita dauernd in einem Loyalitätskonflikt.
Die Suche nach einer Bestätigung durch den vermeintlich stattgefundenen sexuellen Missbrauch hätte eine Art Erlösung für sie bedeutet. Damit wäre die erlebte dysfuntkionale Familiendynamik für sie greifbar geworden und hätte sich für sie womöglich besser einordnen lassen.

Anitas krampfhafte Suche nach einer bestimmten Erinnerung fand dort ihr Ende, als sie begann, sich auf sich selbst zu fokussieren. Auf das, was in der Gegenwart dazu dient, sich für Beziehungen zu öffnen.
Anitas Festhalten an dem Ziel, eine Bestätigung für einen womöglich erlebten oder vermeintlichen sexuellen Missbrauch zu erhalten, hat sie in Passivität verharren lassen.
Und damit waren auch unentwegt jene Abwehrmechanismen aktiv, die es ihr unmöglich gemacht haben, einen freien und lustvollen Zugang zur eigenen Sexualität zu finden.
Ihre Aktivitäten (die Teilnahme an vielen Familienaufstellungen) waren vorrangig darauf ausgerichtet, eine Erklärung für den Zustand zu finden – doch die Bestätigungen, die sie dafür erhielt, haben ihre Frustration nur befeuert. Denn dadurch gelangte sie nie zu einer adäquaten Bewältigungsstrategie. Sämtliche scheinbaren Erklärungen wurden zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung.

Ich begleite Anita seit nunmehr 2 Jahren. Der Weg, sexuelle Selbstbestimmung zu erleben, Bedürfnisse auszudrücken und auch Orgasmen genießen zu können, hat seine Zeit gebraucht und Anita auch viel Motivation abverlangt.
Ich respektiere ihre Geschichte und das Vergangene soll genügend Raum erhalten – jedoch immer auch mit dem Fokus auf die Frage, wofür die Erfahrungen im Hier und Jetzt nützlich sein könnten.
Es gibt dazu selten einfache und schnelle Erklärungen auf komplexe Fragen. In den bisherigen Familienaufstellungen, die Anita besucht hat, ging es offenbar genau um das Gegenteil: eine rasche Erklärung soll für Erleichterung sorgen, die Bestätigung der Anwesenden bringt scheinbare Gewissheit- doch viel Wesentliches bleibt dabei ausgespart.

Ich erlebe immer wieder Klientinnen und Klienten, die sehr viel Zeit und Geld in Familienaufstellungsseminare investieren.
Vorab: die Systemische Aufstellungsarbeit bietet interessante Möglichkeiten der therapeutischen Intervention. Jedoch fällt mir in den letzten Jahren auf, dass sich die Angebote sogenannter „Familienaufstellungs- Seminare“ vervielfacht haben und dieser Markt wird zunehmend auch von Anbietern bedient, die oft über keinerlei psychologische Ausbildung verfügen.
Ich muss ehrlich zugeben: ich stehe dem sehr skeptisch gegenüber. Zu oft habe ich erlebt, dass Klienten sich zu „Kurs-Touristen“ entwickeln, die keine Gelegenheit auslassen, um an einer Aufstellungsarbeit teilzunehmen und geradezu süchtig werden, eine wiederholte Bestätigung (Erklärung) für ein Problem zu erhalten.
Der Dynamik, die sich in Aufstellungsarbeiten findet, wird eine mystische Aura verliehen und auch das einnehmende Charisma einer/eines SeminarleiterIn trägt dazu bei, dass eine differenzierte Reflexion nur noch bedingt möglich ist.
Ich habe selbst an diversen Aufstellungsseminaren teilgenommen—und manche als sehr bereichernd erlebt—nicht zuletzt, weil die jeweiligen SeminarleiterInnen mit einem enormen Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund ausgestattet- sensibel und verantwortungsbewusst, ein sicheres therapeutisches Setting gewährleistet haben.
Mehrheitlich habe ich allerdings jene Aufstellungsarbeiten erlebt, bei denen z.B. ein totgeborenes Kind der Großeltern als hilflos im Universum herumirrende Seele- der Auslöser der Schwierigkeiten eines Klienten sein soll. Da hat sich dann der Stellvertreter (welcher das totgeborene Kind repräsentierte) schreiend auf den Boden geworfen und um Erlösung gefleht.
In einer anderen Aufstellungsarbeit wurde den Stellvertretern vom Seminarleiter zugeflüstert, was sie dem Protagonisten (Klienten) sagen sollten, um ihn von den Schuldgefühlen zu befreien (…).

Solche Inszenierungen haben aus meiner Sicht nichts mit seriöser systemischer Aufstellungsarbeit zu tun. Sie sorgen garantiert für Einnahmen der jeweiligen Anbieter- und „Gänsehautfeeling“ bei dem einen oder anderen Teilnehmer.
Das mag, oberflächlich betrachtet einem gewissen Unterhaltungswert dienen, Fakt ist aber auch: es kann einigen Schaden anrichten.
Bei Anita hat es dazu geführt, dass sie davon überzeugt wurde, Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein.
Und selbst wenn es sich so zugetragen haben sollte- für Anita haben aus den Aufstellungsarbeiten keinerlei konkrete Bewältigungsmöglichkeiten resultiert.
(Dazu angemerkt: einflussnehmende, suggestive Einwirkungen auf KlientInnen sind schlichtweg unseriös)

Ich selbst bediene mich immer wieder gerne der Tools aus der systemischen Aufstellungsarbeit – doch nur dann, wenn ich mir sicher bin, dass es für den / die jeweilige/n KlientIn neue Perspektiven liefern, oder daraus resultierende Bewältigungsstrategien im Umgang mit Schwieirigkeiten bewirken kann.

calendar Juli 24, 2024 category Blog


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