Erwartungen anderer

„Christian – der Mann für jeden Auftrag“

Die Auszeit war eigentlich als „Paar- Auszeit“ vereinbart und gebucht. Doch nur wenige Stunden vor seiner Ankunft gab mir Christian Bescheid, dass er allein kommen würde. Seine Frau wäre kurzfristig erkrankt.

Christian wirkte bei seiner Ankunft gestresst und eigentlich wenig begeistert darüber, die Zeit hier allein zu verbringen.
Seine Frau hätte schon genaue Vorstellungen vom Ablauf der Auszeit gehabt. Jetzt liegt sie mit Fieber im Bett und hätte ihn überredet, allein zu kommen. Dabei kenne er nicht einmal den Ablauf.
Christian wirkt direkt gereizt, als er mich ansieht und fragt:

„Was ist der Plan?“

„Es gibt noch keinen. Der Plan entsteht aus dem, was du mitbringst“, antworte ich.
„Ich bringe nichts mit. Den Plan hat meine Frau und nachdem sie nicht da ist…“, er lässt das Ende des Satzes offen.
„Ich frage nur, weil ich mir nicht sicher bin- willst DU eigentlich da sein?“
„Die Auszeit ist bezahlt. Und meine Frau wollte, dass ich komme, also wird sich wohl irgendetwas finden lassen, um die Zeit zu nützen.“ – Jetzt wirkt er direkt verärgert.
„Das heißt also“, frage ich nach, „dass du eigentlich nur da bist, weil deine Frau das so wollte?“
Er zuckt mit den Schultern und sinkt fast in sich zusammen, als er leise anfügt: „Wenn es sie glücklich macht?“
Sein letzter Satz war von einem sehr deutlichen Stimmungswechsel begleitet. Er wirkte auf einmal gar nicht gereizt, sondern sehr weich.
„Wenn deine Frau, die Entscheidung zur Auszeit getroffen hat – was denkst du, hat sie sich davon erwartet?“; frage ich. Und ergänze dann: „Und weshalb ist sie selbst heute nicht da?“
Nicht, dass mir die Erklärung ihres plötzlichen Infekts entgangen wäre, ich fand es nur sehr interessant, dass sie ausgerechnet an diesem Morgen krank wurde und zudem noch darauf bestanden hatte, dass er sich allein auf den Weg macht.

Ich erzähle von genau dieser Auszeit, weil hier einige interessante Phänomene zusammentreffen, die für sich einzeln genommen, oft vor oder während Auszeiten passieren.
Einerseits: die plötzliche Erkrankung seiner Frau. Natürlich kann es vorkommen, dass jemand genau am Tag der geplanten Ankunft erkrankt. Die Macht der inneren Abwehr ist allerdings nicht zu unterschätzen. Die Aufregung und die Unsicherheit- „ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich das, wofür ich mich entschieden habe, eigentlich noch will…! Und was erwartet mich hier eigentlich?“ – können alte Vermeidungsstrategien unglaublich befeuern.
Zum anderen habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade bei Paar- Auszeiten manchmal ein Partner die Entscheidung dazu durchsetzt, ohne dass der andere seine echte Zustimmung dazu gegeben hat.
Bei Christian kam noch hinzu, dass er sich ohne die Orientierung an der Planung seiner Frau – so ganz auf sich gestellt – offenbar überfordert fühlte.
Eines wurde im Gespräch jedoch schnell deutlich: dieser Mann hatte sich innerlich schon fast zur Perfektion darauf konditioniert, Aufträge anderer an ihn nach Punkt und Beistrich auszuführen.

Christian erhält dauernd Aufträge: nicht nur von seiner Frau, deren Wünsche ihn geradezu beseelen sie glücklich zu machen.
Reihenweise Aufträge – manche davon geradezu „missions impossible“ erhält er auch in seiner Arbeit.
Christian hat als leitender Oberarzt vor kurzer Zeit eine Abteilung in einem großen Krankenhaus übernommen und der Auftrag lautet, dass er einerseits das zerstrittene und im Konkurrenzkampf befindliche Ärzteteam „auf Kurs“ bringt, andererseits gibt es auch die Erwartung des Teams an ihn, die langersehnten Veränderungen endlich herbeizuführen.
Zu Hause wartet seine Frau mit dem verständlichen Wunsch nach mehr gemeinsamer Zeit, dazu kommen noch 2 Kinder aus erster Ehe, die – wenngleich schon erwachsen- dennoch ihre Zuwendung von ihm einfordern.
Christian tanzt auf vielen Hochzeiten. Gerade eben auf der, genannt „Auszeit“ – und diesmal ohne jede Choreografie.

Er glaubt, auch hier in seiner „Auszeit“ ein Ergebnis abliefern zu müssen. Und genau deshalb erscheint es mir erstmal wichtig, ihm diesen Druck zu nehmen.
Er hat keine Ahnung, wie er diese 5 Tage verbringen „soll“ – und dass es keinen von mir erstellten Leitfaden gibt, verunsichert ihn erst recht.
Nach einer Gesprächspause überrasche ich ihn mit dem Vorschlag einer „Thai Nuad“- einer Körperbehandlung, die darauf abzielt, Blockaden zu lösen.
In dem Fall ist mir aber wichtig, dass Christian ganz bewusst die körperlichen Verspannungen wahrnimmt und auch an mich kommuniziert.
Er lässt sich darauf ein – im ersten Moment eher widerwillig, doch nach kurzer Zeit scheint er schon gut auf sich selbst fokussiert zu sein.
Und genau das war mein Ziel! Mir war wichtig, Christian die Möglichkeit zu geben, sich ganz und gar auf sich selbst und das eigene Empfinden einzulassen. Dazu kommt noch, dass Christian als Naturwissenschaftler etwas „Greifbares“ brauchte, um eine Verbindung zwischen direktem Spüren und emotionalem Erleben herzustellen.
Danach schien es so, als wäre ein Kanal geöffnet. Christian deutete mit verschmitztem Lächeln auf die Sauna – „Wäre das möglich?“
Und während ich die Aufgüsse zubereitete, suchte er sich eine entspannte Position und erzählte einfach.
Von seiner Ehe, von seinen Kindern, von seiner Arbeit. Und dann – nach dem 2. oder 3. Aufguss, auch ein wenig von seinen Selbstzweifeln.
Christian hat mir in der Zeit seiner Auszeit viel Vertrauen geschenkt und mir einen Blick hinter die Kulisse des erfolgreichen, gut situierten Primars gewährt.
Für ihn war die Körperarbeit genau der Schlüssel, die Tür zu seinem Inneren zu öffnen und sich selbst als Mensch wahrzunehmen.
Die Offenheit und Aufrichtigkeit in den Gesprächen wären sonst vielleicht in der Tiefe nicht möglich gewesen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Abschied, als er mich deutlich bewegt, umarmte. Sein Feedback an mich war sehr schön. Was mich aber noch viel mehr berührte war, – als er lachend die Arme ausstreckte und erklärte: „Ich werde jetzt auf die Riegersburg gehen und danach in die Therme. Das ist mein Auftrag an mich. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich etwas einfach so mache- nur für mich. Dann werde ich heimfahren…“.
Ein paar Wochen später erhielt ich eine Mail von Christian. Sinngemäß schrieb er mir, dass es ihm gut gehen würde. Es gäbe immer noch jede Menge Aufträge und es wäre manchmal noch schwer sich von den Erwartungen anderer abzugrenzen. Aber es gelinge schon besser.

calendar Juli 24, 2024 category Blog


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