2 Leben

Johannes

Johannes ist 75 Jahre alt, Ehemann, Vater und Großvater ist.
Er hat – wie er sagt- alles in seinem Leben getan, was es zu tun gäbe: eine liebe Frau gefunden, zwei Kinder in die Welt gesetzt, eine Firma gegründet, ein Haus gebaut. Manchmal hat er Phasen, in denen er eine tiefe Sehnsucht verspürt, die sich mit einem Gefühl von Leere abwechselt.
Als ich bemerke, wie er plötzlich mit den Tränen ringt, strecke ich meine Hand in seine Richtung aus.
„Ich bin da“, sage ich nur.
Es dauert eine Weile, dann erzählt er.

Johannes kam kurz nach dem Krieg zur Welt, seine Mutter hat vier Kinder geboren, eines starb nach der Geburt. Sein Vater war in russischer Gefangenschaft und blieb dort verschollen. Er hat ihn nie kennengelernt.
In den späten 50er Jahren heiratete seine Mutter erneut. Johannes erinnert sich noch gut an die vielen Befehle seines Stiefvaters, einer klingt bis heute in seinen Ohren nach: „Stramm stehen!“
Ich erfahre, dass dieses „Stramm stehen“ sich nicht nur auf die körperliche Haltung bezog, sondern dass damit auch Erwartungen an bestimmte innere Werte verknüpft waren.
Durchsetzungsvermögen. Disziplin. Härte.
Die vielen Schläge, die er im Laufe seiner Kindheit erhalten hätte, die körperlichen Schmerzen – all das wäre längst nicht so schlimm gewesen wie die immense Scham, die er empfand, als sein Stiefvater ihn eines Tages mit dem Nachbarbuben nackt am Bach erwischt hätte.
Sie wären neugierig aufeinander gewesen. Einer hatte den anderen angefeuert, die Hüllen fallenzulassen. Die Berührungen waren von unbeholfener Zärtlichkeit.
Johannes kann sich mehr als 60 Jahre danach noch an das aufgeregte Herzklopfen erinnern. Daran, wie sich der Körper seines Freundes angefühlt hat – noch warm von der Sonne, irgendwie weich und gleichzeitig schon sehr männlich.
Es war das erste Mal, dass er eine Erektion verspürt hat. Alles war so neu, so erregend – „Ich habe mich so frei gefühlt“, erzählt er.
Und dann tauchte plötzlich sein Stiefvater auf.
Die tiefe Verachtung in seinem Gesicht, sagt Johhannes, wird er nie vergessen. Und genauso wenig den Satz, der sich in ihm eingebrannt hat:
„Du bist ja abartig.“
Die Schläge, mit denen er bestraft wurde, wären längst nicht so schlimm gewesen, wie die Erniedrigung und dieses tiefe Gefühl von Scham.
Er wollte nur noch eines: so schnell wie möglich weg von seinem Stiefvater, der seither keine Gelegenheit ausließ, damit zu drohen, allen von seiner „Abartigkeit“ zu erzählen. – Weg, aus der Enge des Dorfes mit all den ländlichen Traditionen, den vielen Tabus und unausgesprochenen Regeln. Weg von der tiefen Sehnsucht, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er dem Nachbarsbuben begegnete. Weg von sich selbst. Weit weg.
Die geheimen Wünsche und Begehren – all das wurde tief im Inneren vergraben.
Als er seine Frau kennenlernte und sie seinen Antrag annahm, glaubte er an die Überwindung all dessen und an ein Leben in „Normalität“ -es war eine perfekte Anpassung an die vorgegebenen Normen.
Der Ehe folgten Kinder – der Bau eines Hauses am Rand irgendeiner Kleinstadt.
Das Leben war einfach ein Leben. Die meiste Zeit zufrieden,-was will man mehr?
Ich frage ihn, ob er jemals noch an diesen Nachmittag am Bach mit dem Nachbarsbuben gedacht hat- an diesen glücklichen Moment und das Gefühl von Freiheit.
Er schüttelt den Kopf. „Das habe ich verdrängt.“
„Aber es war doch immer da?“, frage ich.
Er nickt langsam. „Ja, es war immer da.“
Immer wieder hätte er in den letzten Jahren im Internet auf diversen Plattformen Kontakt zu Männern aufgenommen. Man hätte sich geschrieben, es gab auch Einladungen zu Verabredungen. Doch als es so weit war, ist er nie hingegangen.
„Ich liebe meine Frau“, sagt Johannes und dabei ist sein Blick fest. „Ich wollte ihr nicht wehtun.“
„Und das hättest du, wenn du zu den Verabredungen gegangen wärst?“
Er nickt.
„Aber irgendwann hast du dich mit jemand getroffen?“, frage ich.
Er nickt erneut.
Mir wird in diesem Augenblick klar, dass mit der Entscheidung zu diesem Date der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Verdrängungsstrategie nicht länger funktionierte.
Der Mann, mit dem er sich traf, war ihm sympathisch gewesen. Für echte emotionale Nähe hätte es nicht gereicht – und über gegenseitige Berührungen wäre es auch nicht hinausgegangen.
Kein Sex. Dafür viele Zärtlichkeiten.
Ein Gefühl von Echtheit, von innerem Ankommen.
„Wie viele Jahre meines Lebens bleiben mir noch? Fünf, vielleicht zehn?“; fragt Johannes und die Bitterkeit in seiner Stimme ist nicht zu überhören, als er ergänzt: „… und wie viele Jahre davon soll ich noch damit verbringen, mich selbst zu verleugnen?“
Seine Frau und die Kinder wüssten nichts von seiner… „Neigung“- (Das Wort spuckt er förmlich vor mir aus, als handle es sich um etwas ganz und gar Abscheuliches).
„Ich weiß ja nicht einmal, ob ich wirklich…“- Johannes stockt und das Wort kommt nur sehr zögernd über seine Lippen – „schwul bin“.
Ich frage Johannes, ob er denn einen Begriff, ein Wort, für diese Sehnsucht hätte.
„Ich will einen Mann spüren“, sagt er und dieser einfache Satz berührt mich tief.
Und dann ergänzt er: „Es geht nicht nur um Sex.“
Er spricht von Nähe und Berührungen. Und davon, dass er gerne noch einmal so ein Freiheitsgefühl erleben würde, wie damals. Vor mehr als sechzig Jahren, an diesem Sommertag am Bach mit dem Nachbarsbuben.
Er meint innere Freiheit – ein Leben ohne Angst und Scham und sich eins fühlen mit sich selbst.

Ganz nüchtern betrachtet, wäre es jetzt sogar der Zeitpunkt für eine Trennung von seiner Frau. Die Kinder sind längst erwachsen, das Haus abbezahlt – eigentlich könnte man jetzt ohne großen materiellen Schaden dem Leben eine neue Wendung geben.
Doch die rein sachliche Betrachtung wird dem gesamten Dilemma und dem Gefühlschaos längst nicht gerecht.
Johannes`Liebe zu seiner Frau ist offensichtlich. Möglicherweise war da nie ein echtes sexuelles Begehren oder es ist schon längst nicht mehr vorhanden; vielleicht ist es eher eine Art geschwisterliche Liebe. Jedenfalls aber tiefe Verbundenheit.

Ich kann nur mutmaßen, dass seine Frau eine zumindest vage Ahnung von Johannes`Sehnsüchten hat. Möglicherweise verleugnet sie diese Wahrheit, weil sie Angst hat, ihn zu verlieren.
Und Johannes selbst macht sehr deutlich klar, dass er die Verbindung mit seiner Frau keinesfalls auflösen möchte.

Es ging in den 2 Jahren, in denen Johannes regelmäßig zu mir kommt, nicht darum, eine Entscheidung zu treffen oder eine radikale Veränderung im Leben herbeizuführen. Für ihn kommt auch nicht in Frage, seine Frau in seine Geheimnisse einzuweihen, um eine Art offene Beziehung mit ihr auszuhandeln.
Er ist davon überzeugt, dass seine Offenbarung sie nur schwer belasten würde und er ihre Enttäuschung darüber nicht ertragen könnte.
Johannes bewegt sich durchaus sehr souverän zwischen seinen 2 Leben: dem eines fürsorglichen Ehemannes und jenem, in dem er seine Sehnsucht nach männlicher Nähe stillt.
Ich respektiere seine Entscheidung.
Doch der Balanceakt kostet ihn auch einiges an Kraft, denn der innere Zwiespalt lässt sich nicht immer gut aushalten.
Aber etwas hat sich verändert – die Scham über seine „Neigungen“, die Johannes Zeit seines Lebens empfand, wird kleiner.
Die Stimme des Stiefvaters ist vielleicht nicht gänzlich verstummt, aber doch nur noch ein Flüstern im Hintergrund.

calendar Juli 24, 2024 category Blog


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