„Irene“
Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin …
Irenes Mail enthielt nur wenige Sätze – die Bitte eines Termins für eine Auszeit. Und das mögliche Zeitfenster von 3 Tagen.
Meine Antwort enthielt nicht nur Terminvorschläge, sondern auch die Einladung zu einem Telefonat. Immerhin kannten wir uns noch nicht und ich war mir sicher, dass sie einige Fragen zur Auszeit hätte, die sie vorab gerne klären würde.
Die Antwort kam postwendend und mindestens genauso knapp formuliert: Ein Telefonat wäre nicht nötig, sie würde gerne zu dem vorgeschlagenen Termin kommen.
Irenes Entschlossenheit beeindruckte mich mindestenso so sehr wie ihr Mut. Nachdem die meisten Menschen doch recht genaue Informationen brauchen, ehe sie sich auf ein Abenteuer wie die Auszeit einlassen wollen, war ich angesichts ihrer knappen, aber sehr klaren Reaktion doch erstmal überrascht.
Somit wussten wir beide nicht, was uns eigentlich erwartete und ich war schon sehr gespannt, sie kennenzulernen.
Was hatte sie wohl dazu bewogen, diese Auszeit zu buchen? – Was für ein Mensch ist sie?
Welche Erwartungen, oder auch Schwierigkeiten und Themen würde sie mitbringen?
Ungefähr drei Wochen später war es dann so weit. Das Einparken ihres SUV`s gelang ihr zielsicher, ihr Händedruck war genauso fest und klar wie ihr Blick.
„Jetzt bin ich da“ – das waren ihre ersten Worte. Und erst dann gestand sie mir wortreich, dass sie eigentlich „einen riesigen Bammel“ davor hätte, was sie hier wohl erwarten würde. Ihren Freundinnen hätte sie versprechen müssen den Live- Standort zu übersenden – nur für den Fall, dass ich mich als Serienmörder entpuppen sollte.
Ihr Bruder hätte sie angesichts ihrer Vertrauensseligkeit buchstäblich für verrückt erklärt und ihre Mutter hätte nur interessiert, weshalb sie überhaupt eine psychologische Unterstützung brauche, nachdem sie doch wahrlich keinen Grund hätte, sich über ihre Kindheit zu beschweren.
„Ich weiß selbst nicht wirklich, weshalb ich da bin“, meinte Irene kopfschüttelnd. Ich dachte nicht zuletzt an die Worte, die ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Das Thema hatte sie längst im Rucksack dabei, wenngleich es ihr vielleicht noch nicht ganz bewusst war.
Doch weil ich keine voreiligen Schlüsse treffen, sondern ihr stattdessen einen ganz freien Raum bieten wollte, sprach ich das voerst nicht aus.
Wir plauderten einfach. Oberflächlich betrachtet waren es ganz triviale Themen, die dazu dienten, ihr die Gelegenheit zu geben mich erstmal in Ruhe zu „beschnuppern“.
„Ich weiß gar nicht, weshalb ich eigentlich gekommen bin“- diesen Satz wiederholte Irene noch noch einmal nach ihrer Ankunft. Ich versicherte ihr, dass das schon völlig in Ordnung ist – und dass sie darauf keine Antwort liefern müsse. „Ist es okay, wenn wir einfach etwas plaudern?“; fragte ich. Sie wirkte erleichtert.
In diesem „Plaudern“ näherten wir uns ganz automatisch und in Leichtigkeit – ohne langes Nachdenken und ohne Druck den Dingen, die sie gerade im Leben sehr beschäftigten und bewegten.
Zwei Fragen weiter hatte sie dann ein ziemlich deutliches Bild ihrer Erwartungen von der Auszeit.
Es kommt immer wieder vor, dass Menschen – so wie Irene – zu einer Auszeit kommen und dabei noch kein klares Bild davon haben. Weder davon, was sie dazu motiviert hat, noch davon, was sie sich davon konkret erwarten.
Viele sind sogar überrascht, weil ich im Vorfeld weder Fragebögen versende noch konkrete Informationen zu den persönlichen Zielen der Auszeit erwarte.
Mir ist wichtig, Menschen unvoreingenommen und offen zu begegnen; ihnen sozusagen eine „weiße Leinwand“ zu bieten, die wir dann in einem gemeinsamen Prozess bemalen und gestalten.
Deshalb gibt es hier im „Nest“ auch keine Standardprogramme, stattdessen einen Rahmen und ein Ziel..
Mit anderen Worten: es ist erstmal eine Reise ins Unbekannte. Wir legen erst die Richtung fest, danach den Zielhafen. Ich sehe mich dabei als Reiseführer- und Begleiter, der für ein sicheres Ankommen sorgt und ermöglicht, die Erfahrungen dieser Reise auch ins alltägliche Leben zu integrieren – so dass die damit verbundenen Veränderungen auch nachhaltig sind.
Doch zurück zu Irene!
„Mein Geburtstag ist immer noch der Tag, an dem meine Mutter ihren Verdienst huldigt, mich zur Welt gebracht zu haben. Es geht immer nur um sie. Schon seit meiner Geburt…“
Nicht ganz überraschend, dass das Verhältnis zu ihrer Mutter ein zentrales Thema war?!
Zum ersten Mal in ihrem Leben, erklärt mir Irene nach drei intensiven Auszeit- Tagen, fühlt sie sich nicht schuldig. Stattdessen – irgendwie erwachsener und gereifter. (Ihre Worte, nicht meine!)
Bei unserer Verabschiedung wirkte Irene so viel entspannter und gelöster als bei ihrer Ankunft. Auch wenn uns beiden klar war, dass diese Auszeit erstmal der Stein des Anstoßes zur Veränderung war und es noch einiges in ihrem Leben zu erledigen gibt, war es dennoch ein gutes Gefühl, sie mit diesem (neuen) Selbstvertrauen gehen zu sehen.